17. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos Havanna 1995

Filmbeschreibungen:


Verrückt nach Kino, sogar dem eigenen.

Leistungsschau des lateinamerikanischen Films auf dem 17. Festival von Havanna.

LA HABANA im Zeichen des Kruzifix. Am nationalen Trauertag, an dem es keinerlei Vergnügungen und also auch keine Filmvorführungen geben darf, lud Alfredo Guevara, der Präsident des Filminstituts und des Festivals sowie enge Vertraute Fidel Castros, auf feinem Büttenpapier zu einer katholischen Messe. Es war kein Kirchgang der üblichen Art, sondern eine Veranstaltung des Gedenkens an die geistigen Väter der Einheit und Identität Amerikas, Simon Bolivar und Jose Marti. Es hielt sie nicht irgendein hoher Geistlicher ab, sondern Bischof Carlos Manuel de Cespedes, der Generalvikar, der aus erlauchter kubanischer Familie stammt und als einer der brillantesten katholischen Köpfe gilt. Er war allerdings gerade bei seinem Kardinal etwas in Ungnade gefallen. So wurde nicht ganz klar: Erfuhr nun der Bischof eine Unterstützung durch seinen Freund Guevara, oder die Religion eine ungewöhnliche Umarmung durch einen hohen Vertreter des Staates, obwohl doch nach wie vor der politische Glaubenssatz gelten dürfte: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.

Um Transzendentes ging es noch öfter auf dem Festival, wie gleich zur Eröffnung in dem kubanischen Spielfilm DENK AN MICH von Arturo Sotto Diaz. Jesus heißst nämlich der Zauberkünstler, der von den einfachen Menschen zum Wundertäter gemacht wird. So will es jedenfalls eine Gruppe von Drehbuchautoren, die in diesem Erstlingswerk einen Film im Film gestalten sollen. Beides funktioniert nicht so richtig zusammen: die Geschichte ist dünn und redundant, die politische Metaphorik wirkt aufgesetzt.

Selbst dem Erfolgsteam Tomas Gutierrez Alea und Juan Carlos Tabio, dem vor zwei Jahren mit ERDBEER UND SCHOKOLADE einer der wichtigsten kubanischen Gegenwartsfilme gelang, war kein Glück beschieden. Zwar wurde ihre neue Komödie GUANTANAMERA von den Kubanern viel bejubelt und von der Jury mit dem zweiten Hauptpreis ausgezeichnet; aber die Verwicklungen bei der Überführung einer Leiche von einem Ende der Insel zum anderen verdichten sich nicht zu einer wirklichen Abrechnung mit der überall wuchernden Bürokratie, wie sie Gutierrez Alea schon einmal vor rund dreißig Jahren mit seinem TOD EINES BÜROKRATEN gelungen ist.

Nicht nur das kubanische, fast das gesamte lateinamerikanische Kino zeigt sich zur Zeit nicht auf der Höhe seiner Möglichkeiten. Am deutlichsten wurde dies gerade an der Qualität der neuen Arbeiten der berühmten Regisseure, so bei Jorge Sanjines, der mit seinen früheren Beiträgen Bolivien einst aus der kinematografischen Namenlosigkeit befreite und eines der wichtigsten Kapitel lateinamerikanischer Filmgeschichte schrieb. Die Produktion DEN GESANG DER VÖGEL ZU EMPFANGEN ist dagegen ein wenig überzeugender Aufguß seines frühen Meisterwerks YAWAR MALLKU. Diesmal brechen nicht die Gringos in die einsame Welt der Indios ein und beglücken sie mit ihrem Wahn von einer Geburtenkontrolle, sondern ein Filmteam, das auf dem Altiplano unbedingt die spanische Eroberung rekonstruieren will. Dabei spielt es kaum eine Rolle, daß die Fremdlinge eigentlich Einheimische, Weiße und Mestizen, sind, denn sie haben von der Mentalität und den Lebensformen der Urbevölkerung genauso wenig Ahnung, nur sind ihre Methoden und damit auch die Konsequenzen nicht tödlich wie bei den Gringos. Sanjines bewältigt diese ihm eigentlich vertraute Problematik nicht, sie entgleitet ihm im Verlauf seines Films immer mehr. Dabei wäre das Gelingen gerade dieses Spielfilms so wichtig gewesen. Er gehört zu den ersten Projekten, die mit Hilfe der neuen staatlichen Filmförderung finanziert wurden, für die Jorge Sanjines und seine Kollegen jahrzehntelang gestritten haben.

Bolivien ist damit eines der letzten Länder Lateinamerikas, das sich dazu aufgerafft hat, seine Filmkultur zu unterstützen. Ermutigung für diese neuen Ansätze muß der Grund gewesen sein, weshalb Marcos Loayzas Beitrag EINE FRAGE DES GLAUBENS den Preis für den besten Erstlingsfilm erhielt.

Dagegen hätten wenigstens zwei andere Arbeiten diese Auszeichnung auch ästhetisch verdient gehabt: PATRON, das minimalistische Kammerspiel von Jorge Rocca, seine erste Filmarbeit überhaupt, eine argentinisch-uruguayische Coproduktion (s. FR vom 29. 11. 95); und DIE WELLE des jungen kubanischen Regisseurs Enrique Alvarez, ein Streifzug durch die Innenwelt zweier junger Leute und die Außenwelt ihrer Stadt, durch Ruinen und am Meer entlang, dessen Wellen zum symbolischen Ausdruck für die inneren Emotionen und die äußeren Eruptionen werden, aber auch die natürliche Grenze Kubas bedeuten, die eine junge Frau überwinden will; mit eindrucksvollen Bildern für den Niedergang der Stadt, des Systems, allzu statisch und wortlastig, doch immerhin eines der wenigen Experimente gegen die in Lateinamerika vorherrschende konservative Filmästhetik.

Insofern waren die Entscheidungen der Jury konsequent, denn sie betraten das stimmungsvolle Kunstgewerbe in DER SACKGASSE DER WUNDER von Jorge Fons (Grosse Koralle + Preis für die beste Regie) und OHNE ABSENDER von Carlos Carrera (3. Preis), beide aus Mexico. Risikofreudiger zeigten sie sich lediglich bei der Vergabe ihres Spezialpreises an HÄUSER AUS FEUER des Argentiniers Juan Bautista Stagnaro, einer bewegenden Darstellung des Lebens von Salvador Maza, der als erster Arzt die tödliche Chagas-Krankheit bekämpfte. Der Preissegen an Mexiko läßt sich rechtfertigen, denn obwohl auch dort nichts Überragendes entstand und die staatlich geförderte Produktion inzwischen nur noch aus wenigen Beiträgen besteht, eine Folge der katastrophalen Wirtschaftslage (s. FR vom 25. 3. 95), ist das Durchschnittsniveau doch solider als in Argentinien, dem natürlichen Konkurrenten im Süden, wo dieThemen und Handschriften vielfältiger, die Produktionen allerdings auch wesentlich zahlreicher sind.

In Kürze wird Argentinien vom Nachbarland Brasilien wieder Konkurrenz erhalten, denn der Gigant hat den fast totalen kinematografischen Kahlschlag überwunden, den 1991 der erste, wieder demokratisch gewählte Präsident Collor de Mello verübte. Das neue Film- und Mediengesetz ist in Kraft, Bundesregierung und Bundesländer haben dafür beachtliche Budgets bereitgestellt, zwei Dutzend Produktionen sollen 1996 fertigwerden, 1997 will man sogar die alte Durchschnittszahl von 35 bis 40 geförderten Filmen erreichen. Etwas weniger wäre sicher effektiver, denn der Markt kann so viel gar nicht fassen, und im Norden wird sich nächstes Jahr Venezuela gleich mit 14 Produktionen zurückmelden, obwohl das Land - im Gegensatz zu Brasilien - kurz vor der Pleite steht.

Erste Anzeichen der neuen brasilianischen Produktivität waren in Havanna zu besichtigen, beispielsweise Filme, die sich mit der hundertjährigen Geschichte dieses Mediums auseinandersetzen. Die Summe dieser Leidenschaft findet sich in VERRÜCKT NACH KINO von Andre Luiz Oliveira. Da nehmen doch die Insassen einer psychiatrischen Anstalt eine sie besuchende Menschenrechtsgruppe in ihren Gewahrsam, um die Verantwortlichen zu überzeugen, daß als einzige Therapie für sie nur das Filmemachen taugt. Eine irrwitzige Methapher auf das Trauma nach dem Tiefschlag, die noch dazu einen biographischen Hintergrund hat. Aber wie so oft bei therapeutischen Versuchen ist der Weg das Ziel.

"Der beste Indio ist ein gefilmter Indio", meint Silvio Back vieldeutig in seinem siebzigminütigen Montagefilm DER INDIO BRASILIENS, in dem er die Darstellung der Urbevölkerung im Kino seines Landes seit den ersten Aufnahmen von 1912 und ebenso in ausländischen Produkten ironisch untersucht. Leider liefert er sein phantastisches Material einer pötischen Manie aus, durch die seine Intention auf der Strecke bleibt. Erste Versuchein der Stunde Null eines neuen Aufbruchs, Schürfen nach Geschichte - wie könnte es in einem der traditionsreichsten Filmländer des Kontinents anders sein. Und Hoffnung auf die Zukunft.

Peter B. Schumann in: Frankfurter Rundschau 22.12.1995, S. 8



last update 19.1.2016

Graphik: Uwe Krupka